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Freigabe von "neuer Gentechnik" durch EU

Die EU-Kommission schickt sich an, die Risikoabschätzung für die Freisetzung von gentechnisch manipulierten Pflanzen zu kippen. Dazu wird die publizistische Begleitmusik geliefert. Leider findet das auch in Qualitätsmedien statt und die zitierten Artikel sind wohlgemerkt journalistisch sauber und gut argumentiert. Sie nehmen nur verbreitete unsinnige Narrative auf.
Ich vollziehe die Argumentation mal anhand von einschlägigen Artikeln in der FAZ nach:
https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/weg-frei-fuer-die-genschere-in-der-eu-18969547.html
der eigentlich "ausgewogene" Artikel folgt weitgehend die Argumentation eines Herrn Berninger, des "Chef-Lobbyisten von Bayer" (so die FAZ - allerdings nicht in diesem Artikel):
Turbo einschalten um nicht Chancen zu vergeben, nur für Züchtungen, die auch mit klassischer Züchtung so auch zu erzeugen wäre; die Industrie wird schon alles kennzeichnen.
Das Argument für die Freigabe mit klassischer Züchtung gleich erzeugbarer Veränderung hängt an vielen technischen Details und ist grundsätzlich falsch da auch klassisch erzeugte Veränderungen gefährlich sein können: siehe Lenape-Kartoffel.
Zum "Turbo einschalten": wenn wir gerade anhand von rationalen Argumenten darüber nachdenken, ob eine Freigabe zu riskant ist oder nicht dann ist "ich will aber auch" eher kein adäquates Argumentationsniveau.

Der Grund warum so auf der Freigabe in Europa beharrt wird (Bayer könnte ja einen Teil der Forschung in die USA verlegen bzw. hat es längst getan): die EU hat immer noch einen guten Ruf in Bezug auf Verbraucherrechte (siehe Brussels Effect https://scholarship.law.columbia.edu/books/232/) und der Durchbruch hier hätte Signalwirkung, zumal er ausdrücklich auch Nahrungsmittel betrifft. Bislang traut man sich nämlich praktisch nicht, gentechnisch veränderte Pflanzen für etwas anderes als Viehfutter zu vermarkten.
Die Idee mit der Kennzeichnung übersieht leider, dass das Problem der Biobauern darin besteht, dass sie schon wieder die Analytik bezahlen sollen, weil die sich wild aussähenden GM-Pflanzen eben (noch?) kein Bayer-Emblem auf den Samen tragen.
Für andere Kommentatoren ist der Fall längst klar und man muss es dem Volk nur beibringen:
https://www.faz.net/aktuell/politik/wie-die-landwirtschaft-gentechnik-auf-dem-feld-nutzen-sollte-18853450.html
"fatale Fortschrittsbremse", "Weil Umfragen mehrheitlich Ablehnung in der Be­völkerung signalisieren, taucht die Po­litik unter, und weil die Politik nichts tut, bleibt die gesellschaftliche Akzeptanz aus. ..", "Der Klimawandel erzwingt ein Umdenken.."
zum Thema Rettung vor dem Klimawandel durch Gentechnik siehe:
https://www.nabu-bfa-oekotox.de/2023/03/03/trockenstressresistenz-und-die-rettung-der-welt-vor-hunger/, zum Rest erübrigt sich jeder Kommentar.
Eine sehr ausführliche Darstellung, die eine etwas seltsame Argumentation auffährt:
https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/unternehmen/neue-gentechnik-als-chance-ohne-risiko-in-deutschland-bleibt-skepsis-18938477.html
"Doch wenn  weniger Pflanzenschutzmittel eingesetzt werden, würden die Erträge der Äcker um etwa 20 bis 30 Prozent sinken. Wie soll also mit dem Green Deal die Wirtschaftlichkeit aufrechterhalten werden können? Auf alles scheint es genau eine Antwort zu geben: die Genomeditierung, auch Neue Gentechnik genannt."
Dumm nur, dass praktisch alle jemals auf den Markt gebrachten Produkte der Gentechnik Herbizid- und Pestizidreistenzen enthalten, also gerade den Einsatz dieser Pestizide erfordern. Der Autor hat auch erkannt, dass Monokulturen ein Problem sind. Wie er die mit Gentechnik vermeiden will bleibt sein Geheimnis.
Weitere Argumente
- Pflanzen, die gegen Schädlinge resistenter sind. Es gibt da einzelne Entwicklungen, in der Regel wird das aber mit Pestizidresistenz erreicht.
- die höhere Nitratkonzentrationen tolerieren: herrlich: wir haben dann Kulturpflanzen die in einer Wüste wachsen nachdem rundum die Ökosysteme durch hohe Nitratwerte ruiniert sind  
- und Tomaten mit gesunden Inhaltsstoffen wie Vitamin D (die laut Artikel auch noch fast wie normale Tomaten aussehen (???))- für den  großen Bevölkerungsanteil der an Vitamin D-Mangel leidet.
Einige Artikel räumen immerhin der Argumentation von Bundesumweltministerium (da sitzen Wissenschaftler, die von den "wenig überzeugenden"(FAZ) Gründen für Risikoabschätzungen doch merkwürdig überzeugt sind) und z.B. dem BUND einen gewissen Raum ein.

Vorweggeschickt: CRISPR/CAS etc. sind faszinierende Forschungsinstrumente und könnten wirklich auch bahnbrechende Anwendungen ermöglichen. Auch die Angst, bei Forschung und Entwicklung abgehängt zu werden, ist verständlich. Das ist dann allerdings eine Frage der Vergabe von Forschungsmitteln - Bayer könnte helfen.

Man will auch nicht ein Verbot der "neuen" Gentechnik aussprechen sondern nur eine Kontrolle beibehalten, die die Vermarktung etwas teurer machen würde.
Wenn wir mal annehmen, die wissenschaftliche Diskussion sei nicht eindeutig (immer wenn man konkrete Frage stellt ist sie das, nämlich meines Erachtens pro Vorsorgeprinzip) so kann man doch folgende Überlegungen anstellen:
- Wer in der menschlichen Keimbahn herumeditiert hat ein ethisches Problem ...
- Leute, die Kälber fast ohne Fell züchten (gibt es) oder mit 3 Köpfen (gibt es hoffentlich noch nicht) sollen das ruhig tun. Da wären noch Tierwohl, Ethik ...
- Wenn es um Fische geht, die nie in die Umwelt kommen dürfen wenn sie nicht ganze Ökosysteme leerfressen sollen wird es schon bedenklicher (eine sehr blauäugige Darstellung: https://smea.uw.edu/currents/frankenfish-beyond-the-myth/).
Alles aber was irreversibel ist, sich nicht zurückholen läßt, also z.B. Insekten und Pflanzen im Freiland sollte zumindest mit äußerster Vorsicht betrachtet werden, gleich mit welcher Technologie es erzeugt wurde (das gilt wohlgemerkt auch für "klassische" Mutagense und Züchtung). Das gilt besonders wenn damit das Recht anderer, eben diese Technologien nicht anzuwenden oder nicht auf ihrem Teller zu finden, verletzt wird. Die vorgeschlagene Freigabe würde die Erzeugung von Bio-Lebensmitteln in Europa zumindestens erschweren und verteuern.


Das Konzept der Rückholbarkeit wird deutlich an Beispielen aus anderen Feldern: Folgen schwer "rückholbarer" Entwicklungen  sind z.B. nach Australien eingeschleppte Dingos und Kaninchen, aber auch der Sarkophag, den man um Tschernobyl bauen musste (etwa 1,8 Mrd. Euro, hält etwa 100 Jahre, für die nächste Erneuerung kann man schon mal ansparen) oder das Kühlwasser von Fukushima, (1,3 Mrd. Tonnen, die jetzt unzureichend gereinigt langsam in den Pazifik gepumpt werden während täglich - für einige Jahrtausende - 170 t neues verunreinigtes Kühlwasser anfallen).


Die Richtlinie, die solche Entwicklungen verhindern soll nennt sich Vorsorgeprinzip und auch Deutschland ist der Rio-Konvention beigetreten, in der sie festgelegt ist.


Die von der EU-Kommission vorschlagene Strategie entspricht der vom Chemiesektor bekannte und "bewährten" (DDT, PCB, bromiere Flammschutzmittel, PFAS...): wir machen das jetzt erstmal, sehen was dabei rauskommt, halten dann die Probleme noch einige Jahrzehnte unterm Deckel und sehen dann, wer das Ganze ausbadet.

 

B. Wille

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