Was hat Ihr Sofa mit Eisbären zu tun?
https://chemtrust.org/sofas-polluting-polar-bears/
Chemtrust ist eine britische NGO, zu den Unterstützern gehört z.B. Greenpeace. Deutsche Website: https://chemtrust.org/de/
Schwerpunkt Schadstoffe. Die Organisation ist akkreditierter Insteressenvertreter bei der europäischen Chemikalienagentur.
Ihr Sofa ist wahrscheinlich kein Problem, wohl aber das unserer Nachbarn in England und Irland. Dort enthält es wegen der Vorschriften über Flammschutz - falls es Polster aus Kunststoffschaum enthält - wahrscheinlich Flammschutzmittel. Bei Ihnen ist es vielleicht die Stereoanlage oder die Isolation ihres Hauses.
Es ist allgemein akzeptiert, dass polybromierte Biphenyle und verwandte Substanzen nicht nur potente Flammschutzmittel sind sondern auch persistent (nicht natürlich abbaubar) und bioakkumulierend (sich in Organismen anreichernd) sind. Einmal freigesetzt verbreiten sie sich und werden praktisch nicht abgebaut. Damit landen sie auch bei uns und sogar in der Arktis. Sie reichern sich wie die bis in die 60er Jahre oft benutzten PCBs in der Nahrungskette an und schädigen z.B. Raubtiere, die am Ende der Nahrungskette stehen. Aus den Eigenschaften der Substanzen hätte man das schon zu Beginn ihres Einsatzes absehen können. Leider ist dann immer noch der Nachweis der Schädlichkeit nötig, der incl. Marsch durch die zuständigen Institutionen Jahre bis Jahrzehnte braucht.
Ein besonders eklatanter Fall ist Decabromo-diphenyl Ethane (EBP, DBDPE). Die Substanz ist in der EU (noch) nicht reguliert.
Hintergrund: Der "Vorgänger" decabromierter Diphenyl Ether (decaBDE) steht in der Liste der zu ersetzenden Substanzen nach der Stockholm-Konvention, gilt also als so toxisch, dass er nur noch in Ausnahmefällen verwendet werden sollte. In Deutschland gab es ab 1986 einen freiwilligen Verzicht von Plastik- und Textilherstellern. 2008 wurde die Substanz nach einem spektakulären Urteil zugunsten Dänemarks und des EU-Parlaments gegen die EU-Kommission in Elektronikgeräten verboten. In der EU gibt es noch keine generellen direkt wirksamen Verbote, aber Druck auf die Hersteller. Der Absatz in der EU war 2012 immer noch zwischen 2000 und 5000 t (Wikipaedia).
Auf der Suche nach Ersatzsubstanzen verfiel man auf DBDPE. Bereits erste Evaluierungen durch die Europäische Chemikalienagentur zeigten, dass die Substanz wahrscheinlich in allen wesentlichen Anwendungen als Ersatz verwendet werden würde, aber praktisch die gleichen Eigenschaften hat was Persistenz und Toxizität angeht.
Zeitlicher Ablauf:
2012: DBDPE wird in das Evauationsprogramm der EU aufgenommen
2013: die zuständige Behörde fordert Daten an
2014: Protest des Herstellers gegen diese Anforderung - die Struktur der Verbindung sei nicht mit decaBDE vergleichbar (dies ist die Stelle wo sich der/die durchschnittliche Chemiker*in mit Grausen abwendet)
2016: Gerichtliche Zurückweisung des Protests
2018: keine Daten vom Hersteller trotz Überschreiten der Deadline
2022: Deadline für Entscheidung
Inzwischen wird die Substanz in Eisbären, arktischen Wildvögeln, Pandas in China und in Ausscheidungen von Schimpansen in Uganda und anderen Affen in Costa Rica gefunden.
Kanada erwägt (für Winter 2021) eine gesetzliche Regelung.
Es bleibt festzuhalten, dass der EU Evaluierungsprozess nicht funktioniert. Er kann nahezu beliebig verschleppt werden. Statt des einmal geforderten Prinzips "no data - no market" regiert jetzt "no data - no problem".
Polybromierte Verbindungen müssen von der EU genauso als Gruppe reguliert werden wie das für polyfluorierte Tenside geplant ist.
Informationen:
Zu Hexabromcyclododecan (Flammschutzmittel in Polystyrol-Dämmstoffen) https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/421/publikationen/faq_hbcd_de_17.pdf
Bromierte Flammschutzmittel: https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/publikation/long/3521.pdf
B. Wille
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