Bernd Wille, ergänzt 2024
ich fand den Stoff interessant weil ich mir das Zulassungsverfahren schon mal angesehen hatte und weil dieses Neonic als nicht bienengiftig (B3) bei korrekter Anwendung vermarktet wird.
Als Biozid ist die Einschätzung klar:
Acetamiprid (CAS #135410-20-7) für die Produktart 18 (Insektizide)
Biozidprodukte, die diesen Wirkstoff verwenden, sind Insektizide, die gegen kriechende und fliegende Insekten, sowie Hausstaubmilben sowohl im Haus als auch außerhalb auf Terrassen wirken.
Da Acetamiprid die Einstufung als sehr persistenten (vP) und toxischen (T) Stoff erfüllt, wird er als ein „zu ersetzender Stoff“ gemäß Artikel 10 der Biozid-Verordnung betrachtet. Der Genehmigungszeitraum beträgt folglich nur sieben Jahre.
https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32018R1129&from=DE
Zur Erinnerung aus der Biozidverordnung:
https://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?ri=OJ:L:2012:167:0001:0123:DE:PDF
(Abs. 15)
“Als Folge einer solchen vergleichenden Bewertung sollte ein Biozidprodukt, das Wirkstoffe enthält, die als zu ersetzende Stoffe ausgewiesen wurden, verboten oder seine Verwendung eingeschränkt werden, wenn nachgewiesen ist, dass andere zugelassene Biozidprodukte oder nichtchemische Bekämpfungs- oder Präventionsmethoden, die für die Gesundheit von Mensch und Tier und für die Umwelt ein deutlich geringeres Gesamtrisiko darstellen, hinreichend wirksam sind und mit keinen anderen wesentlichen wirtschaftlichen oder praktischen Nachteilen verbunden sind. In solchen Fällen sind angemessene Übergangszeiträume vorzusehen.”
Für Balkonanwendungen die kein Mensch wirklich braucht ist m.E. die Übergangsfrist ziemlich kurz anzusetzen.
Der Stoff ist in Kombination mit Imidacloprid schon mal mit nicht völlig schlüssigen Ergebnissen auf Schädigung der Entwicklung des wohlgemerkt menschlichen Nervensystems untersucht worden. https://efsa.onlinelibrary.wiley.com/doi/10.2903/j.efsa.2013.3471
Als Insektizid ist der Stoff plötzlich gar nicht mehr so schlimm:
BVL, 22.3.2021:
“Dieser Wirkstoff wurde in der EU im Jahr 2018 erneut überprüft und ist zur Anwendung in Pflanzenschutzmitteln bis 2033 genehmigt. Im Gegensatz zu den Neonikotinoiden Imidacloprid, Clothinaidin und Thiamethoxam, die in Pflanzenschutzmitteln für Freilandanwendungen verboten sind, ist der Wirkstoff Acetamiprid um etwa 2000fach weniger bienentoxisch.”
Es gibt hier ein logisches Problem: ein 2000fach weniger bienentoxisches Mittel ist damit immer noch bienentoxisch.
Wenn man auf die industrielle (..Landwirtschaft) Anwendung schaut ist das Mittel dann bei empfohlenen Aufwandsmengen von 250 bis 350 g/ha und sublethalen Effekten auf Bienen bei etwa 0,1 bis 2 µg/Biene auf den ersten Blick wirklich eher harmlos. Man sollte allerdings im Auge behalten, dass die üblichen Verhaltensstudien ( https://doi.org/10.1007/s00244-007-9071-8) keine Langzeitfolgen berücksichtigen - in der Regel wird die Biene einmal beträufelt und dann allenfalls einige Stunden beobachtet - bei einem persistenten Stoff.
Anmerkung 2024: das peer-review papier erwähnt Studien (leider nicht zitiert) zu Honigbienen und deren Larven, diese waren jedoch unvollständig. Studien zu Hummeln und Wildbienen fehlen.
Wenn man dann aber die gerade weiter zugelassenen Mittel für den Hobbybereich, d.h. als klassisches Biozid, ansieht so ist das Ganze doch etwas bedenklicher: hier wird die Einsatzmenge bei 0,50 mg/l in Spritzmittel oder 3 mg/l in Giesswasser angesetzt. Stäbchen enthalten 40g/kg, also wohl etwa 40-80 mg/Stäbchen. Das Mittel ist systemisch, wird also von der gesamten Pflanze aufgenommen und peu a peu an Insekten abgegeben. Da hier immer mal wieder nach dem Prinzip “viel hilft viel” dosiert wird und Insekten durchaus auch mal mit dem Stäbchen direkt in Kontakt kommen können klingt das alles doch weniger sicher – allerdings auch nicht wirklich bedenklich.
Man könnte sich natürlich auch überlegen ob man wirklich seinen Balkon oder die Terasse zur Giftküche machen will…
Unübersichtlicher wird das ganze dann allerdings wenn man die Genehmigungsunterlagen ansieht:
EU-Freigabe letzter Instanz:
https://ec.europa.eu/food/plant/pesticides/approval_active_substances/approval_renewal/neonicotinoids_en
“EFSA hat ein geringes Risko für Bienen festgestellt. Weitere Einschränkungen seien weder wissenschaftlich noch legal sinnvoll.”
Zitiert wird dort:
17 October 2016
doi: 10.2903/j.efsa.2016.4610
Peer review of the pesticide risk assessment of the
active substance acetamiprid
Hier wird festgestellt (Conclusion), dass Studien zur akuten Toxizität und zu chronischer oraler Toxizität bei Hummeln und Honigbienen vorlagen. Allerdings wird ein “data gap” festgestellt, da die normalerweise geforderte Studie über die hypopharyngialen Drüsen nicht durchgeführt wurde.
Sublethale Effekte werden in der Literatur bei 0.1 µg/Biene festgestellt, die Wirkungen auf Kolonierentwicklung und Überleben konnten nicht ausgewertet werden. Die EFSA schätzt sie als gering ein (ohne anzugeben weshalb). Diese Studien erwähnen Effekte auf Flug, Sterblichkeit und Brutentwicklung, werden von der EFSA aber als nicht umfangreich und kontrolliert genug angesehen.
“It was concluded that these studies cannot be used to draw any firm conclusion on the risk to honeybees, particularly to exclude any potential chronic effect or effect on brood development. “
Nochmal zum Mitschreiben: die EFSA weigert sich, diese Studien anzuerkennen. Man kann daraus also keine Schlüsse ziehen – auch keine positiven. Der Hersteller hat keine Studien zu diesem Thema abgeliefert und seine Studien zu chronischen Toxizität enthalten ein “data gap”. Raten Sie mal was nach dem Vorsorgeprinizp jetzt geschehen sollte …
Für Hummeln und Solitärbienen wurden keine belastbaren Daten vorgelegt, es ist aber anzunehmen, dass Hummeln empfindlicher als Honigbienen sind.
(“No data were available to perform a complete risk assessment for bumble bees or solitary bees.Information was available in the RAR from public literature data indicating that bumble bees may bemore sensitive than honeybees”).
Daten über “non-target” arthropoden sind unvollständig.
Hier nochmal die Liste der “data gaps”:
“The acute and long-term risk to small insectivorous birds should be further addressed (relevant for the representative use on pome fruits; submission date proposed by the applicant: unknown; see Section 5).
• The long-term risk to mammals (e.g. small herbivorous and frugivorous) should be further
addressed (relevant for the representative use on pome fruit; submission date proposed by the applicant: unknown; see Section 5).
• Data on the effects on the aquatic organisms Naididae should be provided (relevant for the representative use on pome fruit; submission date proposed by the applicant: unknown; see Section 5).
• The risk to aquatic organisms should be further considered (relevant for representative uses on potatoes and tomatoes; submission date proposed by the applicant: unknown; see Section 5).
• Data on sublethal effects on bees (i.e. HPG) should be provided (relevant for representative on pome fruit and potatoes; submission date proposed by the applicant: unknown; see Section 5).
• The risk to honeybees via exposure to residue in guttation fluids should be further considered (relevant for representative on pome fruit and potatoes; submission date proposed by the applicant: unknown; see Section 5).
• The risk to non-target arthropods should be further addressed (relevant for representative use on pome fruits; submission date proposed by the applicant: unknown; see Section 5)”
Es ist wahrscheinlich sehr optimistisch, diese Datenlage als ungenügend zu charakterisieren.
Was sollen wir jetzt zur Einstufung B3 sagen?
Dies ist natürlich ein Fall für die "no data no market" Abteilung die in der der neuen EU-Chemikalienstrategie leider noch fehlt.
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